Individuelle Freiheit oder Allgemeinwohl?


Es gibt recht viele Initiativen, die versuchen moderne Technologie in den Kampf gegen Corona-Virus einzusetzen. Dabei meine ich nicht nur die Suche nach einem Impfstoff oder Medikament gegen den SARS-CoV-2 Virus. Es gibt unzählige Ideen und Ansätze für die Nutzung der Technologie für Kontrolle der Verbreitung von SARS-CoV-2 Virus und Messung der Wirksamkeit ergriffenen Maßnahmen. Gerade jetzt, wenn in einigen Länder die Lockdown-Bestimmungen gelockert werden, brauchen wir mehr Sicherheit für das neue Leben mit dem SARS-CoV-2 Virus. Es ist unwahrscheinlich, dass die drei von Regierungen empfohlene Maßnahmen (Tragen von Schutzmasken, Physical Distancing und Hygiene) den erneuten Ausbruch der Pandemie vollständig verhindern können. Bei den Technologie-Initiativen kann man zwei wichtige Stoßrichtungen erkennen: 1. Verfügbarkeit der statistischen Daten und Auswertungen und 2. Contact Tracing.

Verfügbarkeit der statistischen Daten

Die Verfügbarkeit des Datenmaterials ist entscheidend für alle weiteren Maßnahmen. Sowohl in USA als auch in Europa werden dafür Plattformen gegründet, die alle verfügbaren Daten über Pandemie sammeln und allen Interessierten diese Daten zur Verfügung stellen. Die europäische Plattform COVID-19 Data Portal wird von der europäischen Kommission zur Verfügung gestellt. Das amerikanische COVID Tracking Project publiziert sehr umfangreiche Informationen über Testing-Ergebnisse in amerikanischen Bundesstaaten. Sogar Microsoft hat gerade eine Open Data Initiative  gestarted. Das Unternehmen sagt "wir glauben fest, dass alle von der Nutzung und dem Austausch öffentlich zugänglicher Daten profitieren können" und ist auch bereit eigene Daten den Dritten zur Verfügung zu stellen. 

Eine gute Lösung, Rt.live, für die Überwachung der effektiver Infektionsrate (Rt) haben Gründer von Instagram in einem Rekordtempo entwickelt. Dafür wurde auch ein recht gutes statistisches Model entwickelt, der auf GitHub zur Verfügung gestellt wurde. Rt.live zeigt wie schnell sich der Corona-Virus in den Bundesstaaten verbreitet und welche Tendenz (steigend oder fallend) sich daraus ergibt. Diese Daten kann man für Bewertung der Effizienz der gesetzten Maßnahmen nutzen. 

Contact Tracing

Inzwischen haben auch zwei Internet-Giganten das Thema Contact Tracing in Hände genommen. DieInitiative von Google und Apple für eine gemeinsame Entwicklung einer Contact Tracing App (zunächst kommt eine API) wird eine solide Basis für Contact Tracing garantieren. Eines ist bei dieser Kooperation von Google und Apple sicher. Sie kennen sich aus und beherrschen die dafür benötigte Technologie. Eine Überprüfung der Lösung gemäß der 10 Prüfsteine für die Beurteilung von „Contact Tracing“-Apps von Chaos Computer Club und Pepp-Pt Prinzipien halte ich jedoch als sinnvoll. Das Ziel von Google und Apple ist "Kraft der Technologie nutzen zu können, um Ländern auf der ganzen Welt zu helfen, die Ausbreitung von Covid-19 zu verlangsamen und die Rückkehr in den Alltag zu beschleunigen." Möge die Übung gelingen.

Auch die Initiative Pepp-Pt hat sich vor kurzem wieder zum Wort gemeldet. In einer Pressekonferenz hat der Sprecher der Organisation, Hans-Christian Boos, die aktuellen Entwicklungen präsentiert und auch die Ankündigung von Google und Apple kommentiert. Hans-Christian Boos sagte, dass etliche Regierungen beabsichtigen, ihre Contact Tracing Apps auf den Pepp-Pt Prinzipien zu bauen - “We now have a lot of governments interacting. Some governments are publicly declaring that their local applications will be built on top of the principles of PEPP-PT and also the various protocols supplied inside this initiative."

Auch Europäisches Parlament appelliert an die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten, dass die Contact Tracing Apps vollkommen transparent sein müssen - “mus be fully transparent on the functioning of contact tracing apps, so that people can verify both the underlying protocol for security and privacy and check the code itself to see whether the application functions as the authorities are claiming.”

Die Wissenschaftler, wie der Professor Christophe Fraser (Nuffield Department of Medizine von University of Oxford) arbeiten derzeit intensiv an Optimierung der Infektionsprognose. Die dazu verwendeten Algorithmen müssen eine sehr gute Treffquote erreichen - “It’s really important that if you’re going to do an intervention that is going to affect millions of people — in terms of these requests to [quarantine] — that that information be the best possible science or the best possible representation of the evidence at the point at which you give the notification. And therefore as we progress forwards that evidence — our understanding of the transmission of the virus — is going to improve. And in fact auditing of the app can allow that to improve, and therefore it seems essential that that information be fed back.”

Es gibt auch eine grundsätzliche Diskussion über die zentrale (ein großer Teil der Daten wird auf den zentralen Server gespeichert) oder dezentrale (alle Daten bleiben auf dem Smartphone) Methode von Contact Tracing. Apple und Google haben eine komplett dezentrale Lösung vorgeschlagen. Auch eine andere Initiative, Decentralized Privacy-Preserving Proximity Tracing – DP-3T, hat eine dezentrale Lösung beschrieben. Pepp-Pt will aber beide Lösungen anbieten und will darüber auch mit Google und Apple sprechen.

Individuelle Freiheit oder Allgemeinwohl?

Contact Tracing ist die am meisten umstrittene Technologie in Westeuropa, über die ich hier schon berichtet habe. Es gibt bei vielen von uns sehr große Befürchtung, dass solche Apps der erste Schritt zu dem kompletten Verlust unserer Freiheit und Einführung totaler Überwachung sind. Wir stehen hier also von einer grundlegenden Entscheidung, einer sozusagen "sein oder nicht sein?" Entscheidung. Shelly Fan beschreibt diese Herausforderung in guten Singularityhub-Artikel so "contact tracing has always teetered on the line between individual freedom and the good of the general public; the stigmatization of a viral scarlet letter versus keeping others safe; the price of health data sharing versus societal responsibility ... Digital contact tracing may ignite every freedom, privacy, and independence fiber in your body in protest. Tech giants and government alike haven’t helped build a foundation of trust or respect for our private data. But without doubt, digitization is the way of the future." 

Es tut sich also im Technologie-Umfeld einiges. Ich bin zuversichtlich, dass daraus bald eine sinnvolle Lösung für das Leben mit dem SARS-CoV-2 Virus entstehen wird.  

Trotz toller Apps ist Verwaltung der Informationen zunehmend chaotisch

Die Innovation im Bereich der Chat-, Collaboration- und Video-Conferencing-App bekommt in Zeiten von Home Working einen zusätzlichen Antrieb. Ganz neue Ansätze für spontane, intuitive Zusammenarbeit werden sowohl für die private als auch berufliche Verwendung entwickelt. Die Menge der neuen Apps ist erdrückend. 

Viele von diesen Apps befolgen zwar ein sehr gutes Prinzip, die Gesamtheit der Kommunikation zu erfassen und strukturiert darzustellen. Das würde super funktionieren, wenn alle die eine konkrete App nutzen würden. Leider unsere Ansprechpartner bevorzugen oder nutzen ganz unterschiedliche Apps für die Kommunikation und Collaboration. Auch wenn ein Unternehmen sich für eine App entscheidet, muss es in der Kommunikation mit Kunden und Partner zwangsweise oft andere Apps nutzen. 

Ein Nachteil dieser Entwicklung ist, dass die Menge der Apps, die wir für die Kommunikation mit unterschiedlichen Partner benötigen, wächst kontinuierlich. Und damit wird die Verwaltung der Informationen nicht besser, sondern zunehmend chaotischer. 

Was wir dringend brauchen sind Apps, die die in vielen von uns benutzten Collaboration-Apps verstreuten Informationen an einer Stellen zusammen. Oder noch besser Wäre, wenn alle diese Apps sich auf universelle Protokolle einigen würden, die eine App2App Collaboration ermöglichen würden.

Community Surveillance and Contact Tracing

Es gibt inzwischen gute Ansätze für die neue „Normalität“ nach dem Peak der Coronavirus-Pandemie. Wie ich schon in einem vorherigen Post[1] erwähnt habe, brauchen wir unbedingt eine gute Methode, um neue Corona-Infektionen zu entdecken und alle Betroffene (infizierte Person sowie alle anderen Personen, die mit ihnen Kontakt hatten) schnell zu isolieren. Ansonsten droht uns ein neuer Ausbruch der Epidemie.

Diese Idee ist inzwischen auch in Europa präsent und es gibt einige Ansätze für die Lösung des Problems. Wir müssen uns an viele neue bis vor kurzem völlig unbekannte Begriffe wie „Tracking-Apps“, Community Surveillance and Contact Tracing“, „Contact Tracing and Quarantine (CTQ) Technologies“ oder „Digital Herd Protection” gewöhnen.

Wie Anthony Costello, Professor of global health at UCL, in einem Guardian-Artikel[2] schreibt, sind die jetzigen Isolations- und Testing-Maßnahmen nur kurzfristig wirksam:

„Without a programme of community surveillance and contact tracing, the virus will continue to spread. … Social distancing alone won’t work. You can stop contact tracing in the hotspots, but when you lift the lockdown, everywhere at the same time, you’ll face a problem: the virus will come back. New hotspots will form.”

Wir brauchen also eine Lösung für Community Surveillance (eine Methode zur Identifikation infizierter Personen und Überwachung der Einhaltung der Quarantäne) und Contact Tracing (Verfolgung der Kontakte einer infizierten Person). Für Contact Tracing entstehen gerade recht viele Applikationen, die auf asiatischen Erfahrungen basieren. In UK entwickelt man gerade eine NHSX[3] App, die in 3 bis 4 Wochen fertig sein sollte. Die NHSX App sollte nur freiwillig benutzt werden – kein Zwang zur Verwendung wie in Asien. In UK ist man der Meinung, dass man das Virus unter Kontrolle halten kann, wenn eine ausreichende Menge von ca. 60% der Menschen solche Apps benützt:

“Around 60% of the adult population would need to sign up and engage with the app by registering their symptoms or positive test results for it to be effective. Their proximity to other users would be logged, and they would follow advice given in alerts to self-isolate – even in cases where they were not aware of having been in contact with someone infected.”

Eine andere Contact Tracing App gibt es schon in Österreich – Stopp Corona App[4]. Diese App wurde von Accenture Österreich im Auftrag vom Österreichischen Roten Kreuz entwickelt. Derzeit erfolgt die Erfassung der Kontakte manuell, was natürlich für die effiziente Bekämpfung des Virus viel zu langsam ist – das Virus verbreite sich dafür zu schnell. Eine Erweiterung um die automatische Erfassung von Kontakten (Bluetooth scannen) ist schon in der Entwicklung. Auch die Stopp Corona App ist für freiwillige Nutzung vorgesehen. Solche Apps, die Freiwillig von Bürger zu installieren und zu benützen sind, sind aus Sicht des Datenschutzgesetzes unbedenklich. Der Nutzer gibt dem Betreiber der App seine Einwilligung für die Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten. Die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung ist durch Einwilligung erfüllt – Artikel 6 Abs 1 a). In Österreich gibt es aber schon seitens Politik Stimmen für eine verpflichtende Nutzung dieser App. Leider wird sie wenig sachlich geführt. Es überwiegen die emotionale Argumente.

Es gibt auch ähnliche Entwicklungen in vielen anderen Länder. Die Contact Tracing Apps werden im Auftrag von Gesundheitsbehörden, Regierungen oder Non-Government Organisationen entwickelt.

Eine sehr gute Übersicht der derzeit schon verwendeten Lösungen für Contact Tracing and Quarantine (CTQ) Technologie bietet die Studie „Pandemic Mitigation in the Digital Age - Digital Epidemiological Measures to Combat the Coronavirus Pandemic“[5], die Ende März von „The Hague Centre for Strategic Studies“ & „The Austrian Institute for European and Security Policy“ verfasst wurde. Diese Studie umfasst, neben der Analyse der vorhanden Contact Tracing Apps, die wichtigsten Aspekte, die bei der Entwicklung solcher Apps berücksichtigt werden müssen. Die Analyse erfolgte unter Berücksichtigung der Datenschutz-Prinzipien. Angesicht der kritischen Lage wurde dabei auch das Prinzip „Data for the Common Good“ angewendet.  Die Autoren der Studie empfehlen
  1. Consider, where not already adequately provisioned for in existing law, new legal provisions to better be able to use data and ICT to combat the present coronavirus pandemic.
  2. Support the deployment of voluntary, user-controlled self-identification mobile phone apps
  3. Continue the use of anonymized mobile network telecommunications data to evaluate general trends in the epidemiological spread and general population movements (i.e.“heat maps”).
  4. Evaluate digital procedures to support self- and legally mandated quarantines.
  5. Prepare European measures to allow for inner-Schengen movement and international travel in and out of the Schengen zone.
  6. Explore new big data management provisions at European level that, in consideration of existing legislation.
  7. Consider, at all levels of government, new forms of multistakeholder consultation that will explore all relevant data and ICT aspects.

Besonders wichtig für Europa ist die Empfehlung 2: Nutzung der anonymisierten und von dem Nutzer kontrollierten mobilen Apps. Angesicht der großen Bedenken gegenüber staatliche Überwachung ist dieses Prinzip entscheiden für den Erfolg der Kontrolle der Verbreitung von Corona-Virus. 

Die Vielfalt der Contact Tracing Apps lässt unterschiedliche Ansätze und Lösungsmethoden ausprobieren. Wir brauchen hier sicherlich große Flexibilität, um aus den gesammelten Daten notwendige Verbesserungen abzuleiten. Die meisten im Rahmen der staatlichen Grenzen erdachten Apps werden aber absolut nutzlos, wenn wir wieder ins Ausland reisen können. Dafür benötigen wir Lösungen, die länderübergreifend funktionieren.

Ein Team von rund 130 Mitarbeitern aus 17 Instituten, Organisationen und Firmen in Europa hat soeben ein sehr interessantes Konzept für eine länderübergreifende Contact Tracing Plattform vorgeschlagen – Pepp-Pt.

Pepp-Pt[6] (Pan European Privacy Protecting Proximity Tracing) bietet keine Contact Tracing App an. Pepp-Pt hat ein Konzept für solche Apps und die dafür notwendigen Schnittstellen entwickelt. Pepp-Pt bietet neben dem Konzept auch eine "Referenzimplementierung" an. Es wird auch Quellcode der Lösung und der gesamte technologische Unterbau ("Backend") sowie eine Rumpfversion einer App zur Verfügung gestellt.

Das Konzept sieht vor, dass die Kontakte durch Bluetooth Scanning automatisch erfasst werden. Die Benutzerdaten sind jedoch anonymisiert – jeder Benutzer bekommt eine ID und nur diese ID wird dann den Kontakten bekanntgegeben. Alle erfassten Daten verbleiben auf dem Smartphone des Benutzers. Es gibt keine zentrale Datenbank in diesem Konzept. Somit erfüllt das Konzept die Auflagen des Datenschutzgesetzes[7].

Das Konzept ist offen für unterschiedliche Apps, vorausgesetzt, sie halten sich an die definierten Verfahren und Protokolle. Die Lösung ist international (kein nationaler Alleingang) konzipiert, was uns wieder die Reisefreiheit zurückbringen wird. Jede App, die dabei sein will, muss zunächst durch Pepp-PT zertifiziert werden, um den Missbrauch vorzubeugen

Das Pepp-Pt Konzept sieht vor, das die Nutzung der App freiwillig ist. Wir werden demnächst sehen, ob die Bürger ausreichend Eigenverantwortung zeigen und die Pepp-Pt zertifizierte Apps tatsächlich nutzen. Die Meldung der Infizierung darf der Nutzer aber selbst nicht machen. Diese Berechtigung bekommen nur offizielle Gesundheitsämter.

Mehr Informationen über das Pepp-PT Konzept kann man in dem Manifesto[8] nachlesen.

Die enorme Beschäftigung mit der Coronavirus-Pandemie, die internationale Zusammenarbeit und unglaubliche Innovation lassen hoffen, dass wir bald die Corona-Krise in den Griff bekommen und unser Leben sich teilweise wieder normalisiert. Die Contact Tracing Apps werden sicherlich dazu einiges beitragen.



[1] Mein Post über die notwendigen Maßnahmen in der neuen „Normalität“: https://sicheresleben.blogspot.com/2020/03/auswertung-der-bewegungsdaten-fur.html
[2] Artikel von Professor Anthony Castello über Community Surveillance and Contact Tracing in Guardian: https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/apr/03/matt-hancock-government-policy-herd-immunity-community-surveillance-covid-19
[4] Österreichische Contact-Tracing App: https://www.roteskreuz.at/site/faq-app-stopp-corona/
[5] Klimburg A et al. (2020) Pandemic Mitigation in the Digital Age: Digital Epidemiological Measures to Combat the Coronavirus Pandemic, Report published by The Hague Centre for Strategic Studies (HCSS) & The Austrian Institute for European and Security Policy (AIES). Available from https://hcss.nl/report/pandemic-mitigation-digital-age (accessed 6 April 2020).
[6] Pan European Privacy Protecting Proximity Tracing: https://www.pepp-pt.org
[7] Spiegel Artikel über Pepp-PT: https://www.spiegel.de/netzwelt/apps/corona-warn-app-fuer-europa-pepp-pt-setzt-auf-bluetooth-datenschutz-und-freiwilligkeit-a-5e52dbb2-5553-492b-a04a-6f598f8b9205
[8] Pepp-Pt Manifesto: https://404a7c52-a26b-421d-a6c6-96c63f2a159a.filesusr.com/ugd/159fc3_878909ad0691448695346b128c6c9302.pdf